Carmen Kannengießer: TINNITUS – EINE HERAUSFORDERUNG AUCH FÜR GANZHEITLICH TÄTIGE ZAHNÄRZTE

Prof. Harold Gelb aus New York, als Zahnarzt mit seiner Schienentherapie ein erfahrener Tinnitus- Behandler, definiert Tinnitus als „das geistige Erlebnis eines Geräusches, das seinen Ursprung im Kopf des Betroffenen hat.“

Jeder Mensch hört im Laufe seines Lebens einmal Geräusche, die nicht aus der Außenwelt stammen. Das kann auftreten in Stress-Situationen, während des Schluckens, dem Gähnen, dem Zähnezusammenpressen, aber auch nach starken Lärmeinflüssen. Der echte Tinnitus-Patient leidet aber an einem ständigen Klingeln, Pfeifen oder Summen, das den
Betroffenen in schlimmen Fällen fast wahnsinnig werden lässt.

Tinnitus kann allein auftreten, ist aber auch ein Symptom von einigen Ohrenerkrankungen wie Otitis externa, chronischer Otitis media, Otosclerosis und Morbus Meniere.

EPIDEMIOLOGIE

Zur Verbreitung des Tinnitus gibt es verschiedene Angaben. Nach Bubenzer (1999) klagen ca. 17 – 19% der Bevölkerung über Tinnitus, von denen ein Viertel medizinischen Behandlungsbedarf hat. Bei 2% liegt eine extrem schwere Behinderung vor, so dass eine erhöhte Suizidalität vorliegt, da die Erkrankung von schweren Depressionen begleitet wird.

Eine Umfrage bei über 6000 Bürgern in vier britischen Städten ergab ebenfalls eine Tinnitus-Quote von 17%, wobei schwerste Formen mit 0,5 – 2,8% angegeben wurden. Nach einer Umfrage des Nationalen Gesundheitsinstitutes leiden in den USA 4% der Bevölkerung an schwerem Tinnitus.

VIELFÄLTIGE URSACHEN

Trotz intensiver Forschungen gibt es bis heute keine einheitliche ätiologische Theorie von Tinnitus. Er kann die Folge von Störungen der Makro- und Mikrozirkulation sein. Auch Herde im Kopfbereich ( Zähne, Tonsillen, Ohr, NNH), toxische oder allergische Belastungen werden diskutiert. Ebenso können frequentielle Störungen wie Radar, Mikrowelle u. a. sowie lokale Pathologien einen Einfluss haben.

Stress jeglicherGenese scheint Tinnitus auslösen zu können oder aber bereits vorhandene Ohrgeräusche verschlimmern. Möglicherweise können Ernährungsfehler, wie der Verzehr von zuviel Eiweiß und Fett und die unzureichende Zufuhr von Wasser die Zirkulation verändern und zu Störungen führen. Auch aus Sicht der chinesischen Medizin nimmt die Ernährung keineunbedeutendeRollebeider Tinnitusätiologieein.Entsprechend ist die Herangehensweise der chinesischen Medizin: Dünndarm-, Gallenblasen- und Dickdarmmeridian spielen neben dem 3E eine wesentliche Rolle bei der Therapie von Tinnitus. Der große Anteil der Psychosomatik an der Tinnitus- Entstehung und v. a.- Verarbeitung wird in diesem Artikel bewusst nicht angesprochen, hierzu sei aber auf die exzellenten Ansätze von Nelting, Hesse und Schaaf (1998) verwiesen.

RÄUMLICHE NÄHE DES TMJ

Eine ätiologische Bedeutung haben auch Störungen aus dem stomatognathen bzw. craniosacralen System, besonders im Bereich des Kiefergelenks (TMJ) als gelenkige Verbindung der Mandibula mit dem Os temporale. Das TMJ scheint auf Grund seiner anatomischen und topographischen Gegebenheiten an vielen Symptomen und Krankheiten beteiligt zu sein, so möglicherweise auch an der Entstehung von Tinnitus.
Die Bedeutung des Kiefergelenks erkennt man beispielsweise an der überproportionalen sensorischen Repräsentation im Gehirn, an der kraftvollen am TMJ ansetzenden Kaumuskulatur sowie an seiner Bedeutung für Haltung, Koordination und neurologische Organisation u. a. m.. Die Stellung und Mobilität des Sphenoids ist abhängig von den Mm. Pterygoidei, die des Os temporale, Os parietale und Os zygomaticum von den äußeren Kaumuskeln. Der N. trigeminus hat als einziger Nerv Verschaltungen zu allen anderen Hirnnerven, so dass eine Störung in seinem Bereich Auswirkungen auf alle anderen Hirnnervenfunktionen haben kann. Die IKP, also der Zusammenschluß von OK-und UK-Zähnen im maximalen Vielpunktkontakt, entscheidet letztendlich über die Stellung der Mandibula in der Fossa. Das Kiefergelenk hat nach dorsal einen engen Kontakt zum äußeren Gehörgang. Kommt es also durch Verlagerung des Gelenkköpfchens zu einer Kompression in Richtung des äußeren Gehörganges, so könnte dies zu Tinnitus führen.

Weiterhin könnte es durch Probleme am Lig. sphenomandibulare zu Hörstörungen und Tinnitus kommen, da es im Verlauf von der Sphenoidspitze zur inneren Oberfläche der Mandibula einige Fasern abgibt, die bis zum Mittelohr reichen und am Malleolus anheften. Die Funktion von Mandibula und Hyoid ist über die ansetzende Muskulatur und Mechanorezeptoren direkt mit der gesamten Haltung (Kopf, HWS, BWS, LWS,
SIG…) verbunden.

CMD UND TINNITUS?

Besteht eine morphologisch-funktionelle Harmonie zwischen den einzelnen Strukturen des stomatognathen Systems, dann kann man von einem gesunden physiologischen Zustand ausgehen. Ist diese Harmonie an irgendeiner Stelle gestört, dann liegen Funktionsstörungen vor, die man heute als craniomanibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet. Patienten mit CMD können Tinnitus als Hauptsymptom oder als ein Symptom neben vielen anderen wie Kopf-, Rücken- undGenickschmerzen zeigen. Schwindelgefühl, Otalgie, vermindertes Hörvermögen, „dumpfe Wahrnehmungen“ in den Ohren, verzerrtes Sehen oder Doppelbilder und gleichzeitige Geräusche beim Kauen sowie Öffnen und Schließen des Mundes sind möglich.

Ältere und jüngere Studien belegen, dass Tinnitus bei ca. 40% der Patienten mit CMD als Symptom auftritt.1983 wurden in Zahnkliniken Nordamerikas 1142 Patienten untersucht (Gelb, 1985). Man stellte fest, dass mit 73,6% die Frauen im Vergleich zu den Männern mit 26,4 % fast dreimal so häufig betroffen waren. Bei der Untersuchung des sto-matognathen Systems waren folgende Muskelgruppen am häufigsten spastisch verändert: Pterygoideus medialis (82 %), Pterygoideus lateralis (73,6 %), also die Muskeln, die einerseits die direkte Verbindung des TMJ zur Schädelbasis und damit zur Sphenobasilären Synchondrose (SBS) darstellen und andererseits die Bewegung des Kiefergelenkes an sich steuern. Danach folgen der Masseter (80,9%), SCM (50,8 %), Temporalis, Nackenmuskeln u. a..

Bei den „Ohrsymptomen“ dominierte der Tinnitus mit 41,5 %, Hörverlust trat nur in 15,4 % auf. Schmerzen im Bereich des TMJ traten bei der Hälfte der Patienten auf, Knacken bei ca. einem Drittel. Bruxer waren 27,5%, bei 55 % gab es Kopfschmerzen, bei 13,7 % Gesichtsschmerzen, bei 20% auch Schwindel.

DIAGNOSE- UND THERAPIEMÖGLICHKEITEN IN DER NATURHEILPRAXIS UND MIT AK

Nach ausführlicher Anamnese (Hinweise auf Stress, Diätfehler, Kiefergelenksprobleme, Fließfähigkeit des Blutes, Lymphstau u. a. m.), HNO- und internistischer Diagnostik wird mit Hilfe der AK geprüft, ob es Hinweise auf Herde, toxische oder allergische Belastungen gibt. Die AK-Untersuchung beschäftigt sich auch mit dem Ausschluss von Auswirkungen frequentieller Störungen. Weiterhin wird mit AK nach mechanischen Störungen von Seiten der HWS, der Zähne, des Kiefergelenkes sowie des gesamten Craniosacralen Systems gefahndet (Gerz, 2001). Hierbei werden die Grundthesen des Konzeptes von Prof. Gelb (1991) berücksichtigt, nämlich „Think orthopedic first, then dental!“

Das bedeutet, dass von orthopädischen Idealverhältnissen- und proportionen ausgegangen wird. Es wird versucht, diese für Gesicht, Schädel, Mandibula und Kiefergelenk (wieder) herzustellen, um letztendlich auch funktionell wieder eine Harmonie zu erreichen. Dazu wird die Mandibula zunächst probatorisch in eine orthopädische Optimalposition gebracht und danach untersucht, was sich dadurch an Symptomen ändern lässt, vom Kopf bis zu den Füßen! Im positiven Fall wird gemäß dem Konstruktionsbiss eine spezielle Schiene hergestellt, eine sogenannte COPA= Craniomandibulär- orthopädische Positionierungsapparatur!

Die Nackenflexoren sind durch chronische Probleme im Nasennebenhöhlenbereich, der oberen HWS und eben bei CMD häufig so schwach, dass der Kopf kaum in der Testposition gehalten werden kann. Durch COPA-Therapie, physiotherapeutische und kausale naturheilkundliche Behandlungen soll die normale Funktion der Nackenflexoren wiederhergestellt werden.

Bildquelle: Baier-Wolf U, Kienle K. Craniale Osteopathie und Applied Kinesiology.
AKSE Verlag, Wörthsee, 2003

AN ZWEI PATIENTENBEISPIELEN SEI DAS GEZEIGT:

1. R. K., w, 26 J, Zahnarzthelferin

A: Ohrgeräusche täglich als Piepen und Pfeifen seit sechs Monaten- Beschwerden waren immer stärker bei viel Stress und wenig Schlaf, seit zwei Jahren Schmerzen in beiden Schultern bei längerem Sitzen und Autofahren.

U: Inspektion: Auge und Augenbraue li. etwas höher als re, Mundwinkel und
Lippenhälfte li etwas kleiner als re
Groborthopädische Untersuchung: Vorlaufphänomen li +, Spine-Test li +

AK-Test: n: Rectus re., w: Rectus li, Iliopsoas bds, Nackenflexoren als
Gruppe, SCM re
W: fester Biss und Laterotrusion des UK nach re
NC: Konstruktionsbiß für COPA , Zink aktiv forte, Vit.B6,
Magnesium citrate

Mit Bissnahme im Mund auch Vorlaufphänomen und + Spine-Test li aufgehoben!

Therapie

  1. Sofortige Gabe der normoton getesteten orthomolekularen Substanzen
    (Zn und Mg – gehen bei Stress viel verloren!)
  2. Anfertigung einer COPA
  3. Physiotherapeutische Begleittherapie
  4. Modifizierte Übungen nach Rocabado zur häuslichen Unterstützung

Verlauf

  • COPA am 20.11.03 eingesetzt nach nochmaliger Überprüfung mit AK
  • Nach einer Woche Tragen der Schiene: Beschwerden nur noch alle 2 Tage
  • Nach zwei Wochen Tragedauer: Beschwerden nur noch 2-3 mal/Woche
  • 3 Wochen später: Beschwerden nur noch 1 mal /Woche
  • Seit Ende Dezember 03: völlig beschwerdefrei

Die COPA wurde ständig nachts und bei der Hausarbeit getragen, sowie bei längeren Autofahrten.

2. S.S., w, 38 J, Beamtin

A: Seit November 2001 ständige Ohrgeräusche links nach Mittelohrentzündung und Hörsturz. Behandlung erfolgte beim HNO-Arzt mit Infusionen, danach zwei Monate Ruhe, seit Januar 2002 wieder Ohrgeräusche und zwar ständig, zeitweise auch Schmerzen im linken Kiefergelenk und Probleme beim Gähnen, täglich Knieschmerzen vorn, im Stehen und Sitzen, im linken Knie häufiger als rechts.

U: 16.01.03: Re Schulter hängt, Beinlängendifferenz (li kürzer), keine Gelenkgeräusche, UK- Abweichung nach li bei Mundöffnung, Mundöffnung 3,7 cm

AK-Test: n: Rectus bds , h: LD bds, PMC bds, PMS bds, w: Nackenflexoren
W: Laterotrusion nach re, weite Öffnung, fester Biss
NC: Konstruktionsbiß für COPA, Beinlängendifferenz damit
ausgeglichen!

Therapie

  1. Anfertigung einer COPA, eingesetzt am 30.01.03
  2. Physiotherapeutische Begleittherapie
  3. Häusliche Unterstützung durch modifizierte Rocabado- Übungen

Verlauf

27.02.03: Li. Kiefergelenk weniger schmerzhaft
10.04.03: Kiefergelenkschmerz li. weg, anteriorer Knieschmerz bds. weg
09.10.03: Nirgendwo mehr Schmerzen, Ohrgeräusche nur noch selten, wenn,
dann ganz leise Schienenänderung nach erneuter Testung
22.12.03: Patientin völlig beschwerdefrei

ZUSAMMENFASSUNG

Auch die AK kennt bei dem schwierigen Thema Tinnitus keine Patentlösung. Sie kann aber mit relativ einfachen Mitteln und ihrem klaren Konzept dazu beitragen, eine Vielzahl von Fehlfunktionen aufzuspüren und durch die oben dargestellte komplexe Behandlung zu heilen oder wenigstens zu lindern. In beiden genannten Fällen war Tinnitus das Leit-symptom bei diesen craniomandibulären Dysfunktionen. Der Unterschied bestand darin, dass er im zweiten Fall infolge einer Otitis media auftrat, wie es auch Gelb u. a. beschreiben. Hier dauerte die Behandlung länger als im ersten Fall. Dennoch ist das ein gutes Ergebnis, denn nicht in jedem Fall wird die Heilung von Tinnitus überhaupt so schnell möglich sein, besonders dann nicht, wenn die psychische Komponente in der Ätiolgie ein große Rolle spielt.

Nach Gelb konnte Tinnitus als Symptom von craniomanibulären Dysfunktionen nach zahnärztlichen Behandlungen in ca. 70% der Fälle geheilt oder zumindest erheblich gebessert werden. Diese und andere Studien sowie meine eigene Praxiserfahrung zeigen, dass die Therapie von Tinnitus eine Herausforderung für Zahnärzte ist und sie in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie Allgemeinärzten, HNO-Ärzten, Internisten, Orthopäden, Psychologen, Physiotherapeuten, Osteopathen u. a. gute Ergebnisse erzielen können. Leider wurde in der Vergangenheit die Rolle der Zahnärzte bei der Tinnitustherapie nicht ausreichend beachtet.

LITERATUR

Baier-Wolf U, Kienle K (2003) Craniale Osteopathie und Applied Kinesiology.
AKSE Verlag, Wörthsee
Bubenzer RH (1999) Chronischer Tinnitus ist auch eine zahnmedizinische Herausforderung. DZW, 12/99
Gelb H. (1985) Head, Neck and TMJ- Pain and Dysfunction. WB Saunders, Philadelphia USA
Gelb H (1997) Advanced Strategies in the Diagnosis of Temporomandibular Disorder. Verlag ?, Hanau
Gerz W. (2001a) Lehrbuch der Applied Kinesiology (AK) in der naturheilkundlichen Praxis. 2. Auflage, AKSE- Verlag, Wörthsee
Gerz W.(2001b) Tinnitus: Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. Aus: Lehrbuch
der Applied Kinesiology (AK) in der naturheilkundlichen Praxis, 2. Auflage,
AKSE- Verlag, Wörthsee, 319-321
Nelting M, Hesse G, Schaaf H (1998) Tinnitustherapie- mit Leib und Seele, Profil Verlag, München/Wien, 1998

Dr. med. Carmen Kannengießer • Zahnärztin, carmenkannengiesser@hotmail.com

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